Corona? Hab‘ ich!
Es fühlt sich an wie Grippe und draußen gibt’s Corona, was ist das? Die Überraschung war perfekt: es begann am Abend mit Frösteln und einer plötzlichen Schwäche, die mich in die Knie zwang. So etwas hatte nur einmal selbst erlebt in der heftigen Grippewelle 2017/18. Damals war ich früher dran als meine Patienten, konnte ihnen die Worte buchstäblich aus dem Mund nehmen, wenn ich nach Beschwerden fragte.
Nun galt es umzudenken: Der Doktor hat Corona!
Diagnostik
Am Morgen danach Abstrich? Selbstverständlich! Der Kollege in meinem Lieblingslabor bietet mir am Telefon an: „Ergebnis in frühestens 4 Tagen!“ Wir einigten uns auf „ASAP – eilig“ und er schien zu erfassen, was das Ergebnis für die Praxis bedeutete.
Hektik
Meine Mitarbeiterin hatte ich gleich ins Homeoffice geschickt und gebeten, alle Termine bis Montag abzusagen und sich für Dienstag bereit zu halten.
Um es kurz zu machen: abends rief mich die Labordame an und bestätigte den Verdacht: „Corona!“. Zur Sicherheit kam gleichzeitig ein Fax. Am nächsten Morgen meldete ich mich beim Gesundheitsamt und es kam wie befürchtet: Der Shutdown der Praxis war nicht verhandelbar.
Erwartung
Ich war sicher, in 2 Tagen wieder einsatzfähig zu sein… das war nie anders gewesen. Ein pflichtbewusster Freiberufler legt seine Erkrankungen auf das Wochenende oder in die Urlaubszeit. Aber die geltende Rechtslage ist klar: 14 Tage Quarantäne für den Betroffenen und seine Familie… sollte das auch für alle anderen Mitarbeiter gelten? In der Praxis ist seit Monaten Mundschutzpflicht ausgerufen… wenn Patienten im Hause sind. Und sonst? Na ja, wir küssen uns ja nicht täglich im Team und notwendige Umarmungen fallen deutlich knapper aus als früher. Also was kommt jetzt?
Erholung
Jetzt kommen die anderen Patienten (Du siehst… ich habe soeben die Fronten gewechselt: jetzt bin ich am anderen Ende der Spritze – ein sehr unbehagliches Gefühl, muss ich zugeben. Reframing nennt das der Coach. Aber der darf zum Glück kein Corona behandeln.)
Alle Behandlungen der nächsten Tage absagen, kein leichter Job. Natürlich wollte jeder Patient genau wissen, was Sache ist und ob er sich Sorgen machen muss. Ein paar Fragen muss ich selbst beantworten, nach einer Reihe von guten Telefongesprächen sind wir durch. Und auf einmal… wird es wieder leicht ums Herz. Wir haben schnell gehandelt und alles richtig gemacht.
Alltag
Viele, die ich angerufen hatte, fragen mich: „Wie geht es ihnen?“ Und es klingt nicht nach einer höflichen Floskel. Viele nehmen sehr wohl Anteil, wenn es ihrem Arzt nicht gut geht. An meiner Stimmlage lesen sie ab, ob ich Angst habe, ob ich schwer krank bin oder einfach eine überraschende Auszeit nutze. Es ist gut, sich über seine Haltung und seinen Tonfall selbst Rechenschaft abzulegen. Gerne korrigiert mich meine Frau, falls ich unsachlich werde. Apropos Ehefrau, wir arbeiten wie die Brunnenputzer Seite an Seite und haben seit über 15 Monaten keine Auszeit mehr gehabt. Wann hatten wir eigentlich das letzte Mal richtig Zeit füreinander? Ich erinnere mich da dunkel an einen Stau auf der Rückfahrt von einer Fortbildung in München: „Weißt du eigentlich, dass wir heute 20. Hochzeitstag haben?“ Natürlich wusste das die App im Handy, aber ich konnte gerade keine Meldungen lesen und hatte wieder eine Chance verpasst.
Die Krankheit
Ja wie geht es mir eigentlich? Einen Abend war ich in die Knie gegangen, am nächsten nahm ich eine Badewanne und blieb dann gleich in der Horizontalen. So entging ich einem kritischen Kreislaufaussetzer. Danach kam nichts Schlimmes mehr… Husten, eine unruhige Nacht mit einem vollgeschwitzten Bett, das war’s. Keine Schmerzen, keine Atemnot… nur Langeweile. Langeweile? Für einen Workoholic ist alles sinnlose Herumtrödeln langweiliger Zeitvertreib. Ich erinnere mich an therapeutische Gespräche mit Arbeitslosen. Herumsitzen und zum Nichtstun verdammt sein – der blanke Horror für einen Macher, der sich durch sein Tun definiert. Ich bin ja eigentlich Mitte 60 aber ich kann mir im Leben nicht vorstellen, nur abzuhängen und dem lieben Gott die Zeit zu stehlen. Es gab mal eine Zigaretten-Werbung von Gauloises: Heute mach ich mal was ich will – Nichts! Und jetzt ist genau das dran.
Therapie zu Hause
Also ganz ohne therapeutische Unterstützung war ich nicht. Meine Frau ist Apothekerin und hatte mich bei einem großen Teil der Weiterbildungen begleitet. Mit ihr habe ich meine Familie gegründet und meine Praxis. Und jetzt beginne ich zu ahnen, was meine Mutter gemeint hatte, als sie mir vor einen halben Jahrhundert prophezeite: „Du wirst mal einen besten Freund haben und das ist deine Frau!“ Sie hatte noch viele andere Sachen gesagt, aber dieser Satz hatte gesessen. Und heute darf ich Früchte davon ernten… eine gute Zeit.
Epikrise und Reflexion
Nun war der Moment gekommen, von dem ich immer geträumt hatte: später, wenn mal Zeit ist… Es dauert eine Weile, bis man das verinnerlicht und mit allen Sinnen da ist so wie früher… ganz früher. Aber wenn es dann gelingt, dann beginnt die eigentliche Erholung!
Glaubwürdig ist ein Arzt, der die Ratschläge beherzigt, die er seinen Patienten gibt und die gleiche Therapie nutzt. Mit großer Dankbarkeit stelle ich fest: das funktioniert. Ich habe Zeit zum Lesen… Lesen, ein Buch in die Hand nehmen und es zu Ende lesen wie damals Winnetou 1, 2 und 3 von Karl May… ja genau das geht auf einmal wieder. Und es gibt eine Reihe guter Bücher, die schon lange nach mir riefen.
Und dann stehen da noch 2-3 Gitarren und schauen mich fragend an. Wegen Gitarrenunterricht war ich hier im Haus gelandet und Jahre später hatte mir meine Gitarre Lehrerin das Haus zum Kauf angeboten. Ich bin nicht zufällig hier! Große Dankbarkeit überkommt mich.
Das ganze ist schon wieder ein paar Monate her und ich hatte genügend Zeit, um meine Gedanken dazu aufzuschreiben. Wofür kann Corona gut sein?
Irgendwann hatte ich eine Hagiotherapie-Ausbildung gemacht. Hier lernte man, das es eine besondere Form der Depression gibt. Die Depression entsteht dann, wenn man eine Begabung hat und sie nicht lebt. Also d.h.
- dass ich Gitarre spielen kann aber nicht Gitarre spiele,
- dass ich lesen kann aber nicht lese,
- dass ich schreiben kann aber nicht schreibe
Wenn es so etwas wie einen Aha-Effekt gibt, die Zen-Buddhisten nennen das Satori, dann war es jetzt soweit: ein wirklich bedeutender Augenblick in meinem Leben.
Was ist eigentlich meine Berufung?
- Wozu bin ich auf der Welt? Als junger Arzt wurde ich mal von einem Geschäftsmann gefragt: „Willst du reich werden… richtig reich?“ Ich antwortete spontan: „Ich will einmal nicht dumm sterben“. An das Fragezeichen im Gesicht meines Gegenübers kann ich mich bis heute erinnern.
- Damals wollte ich wissen, was Sache ist… wissen, was die Wahrheit ist, die Wahrheit über mich, über meinen Gegenüber, über Krankheit und Gesundheit. Das ist inzwischen 30 Jahre her und ich bin einen, vielleicht 2 Schritte weiter.
Was ist wirklich wichtig?
Wenn man nicht mehr am Ruder steht sondern schwach ist und Hilfe braucht… was macht das Leben dann noch lebenswert? Ein paar alte Patienten sehe ich regelmäßig, die sind jenseits der 80, einzelne schon über 100 und klar und dankbar. Die geben mir schon zu denken. Sie freuen sich auf die Begegnung mit ihren Kindern, Enkeln (oder eines von den 34 Urenkeln!), aber sie freuen sich auch auf jede gute Begegnung mit mir, vielleicht ein gemeinsames Gebet, auf Zuwendung, Anerkennung, Wertschätzung, auf die vielen kleinen Gesten, die den Alltag ausmachen. Eine freut sich auf den Himmel, auf die Begegnung mit Jesus. Heute wird mir wichtiger als je zuvor, sie alle mit den Augen Jesu zu sehen, aber auch mich selbst und meine Familie aus diesem Blickwinkel wahrzunehmen und dann vorbereitete Werke zu erleben, Situationen, auf die ich gut vorbereitet wurde… In Dankbarkeit lässt sich das alles viel leichter ertragen. Ich hoffe, dass ich das nicht so schnell vergesse.